Von Daniel Kipfer Fasciati und Detlev Stoffels
I. Ausgangsfall
Fall 91 der Kommission des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen in New York, zuständig für Al-Qaida und den Islamischen Staat (IS) im Irak und der Levante (Da‘esh):
Das OLG Frankfurt am Main verurteilte den deutschen Staatsangehörigen im Januar 2014 u.a. wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer ausländischen terroristischen Vereinigung zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren.
Im November 2015 beschloss der Sanktionenausschuss des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen in New York die Aufnahme des Verurteilten in die Sanktionenliste. Am 3.12.2015 erließ die europäische Kommission im Verordnungswege das Einfrieren der Gelder und wirtschaftlichen Ressourcen des Verurteilten. Im Februar 2018 wurde der Verurteilte aus der Strafhaft entlassen und der Strafrest wurde zur Bewährung ausgesetzt. Zu Beginn des Jahres 2020 beantragte der Verurteilte seine Streichung von der Sanktionenliste. Am 4.9.2020 fand seine persönliche Anhörung durch die Ombudsperson der Vereinten Nationen, die auch Stellungnahmen der anwesenden Beamten des Verfassungsschutzes, der Bewährungshilfe, der Ehefrau und des Rechtsbeistandes des Verurteilten entgegennahm, statt.
Am 19.2.2021 stimmte die Kommission des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen der Löschung des Verurteilten von der Sanktionenliste zu und die Sanktionen wurden aufgehoben.
II. Praxisrelevanz
Der Bürgerkrieg in Syrien, die Kriege im Irak und in Afghanistan sowie andere militärische Konflikte und Bürgerkriege haben zu einem Anstieg der Ermittlungsverfahren in Deutschland geführt, in denen aus den Kriegsgebieten zurückkehrenden deutschen Staatsbürgern vorgeworfen wird, sich als Mitglied einer terroristischen Vereinigung an den in den §§ 129a ff. StGB aufgeführten Straftaten beteiligt zu haben.
Zudem hat die Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2002, im Rahmen ihres Beitritts zum Internationalen Strafgerichtshof, die von diesem Gericht verfolgbaren Straftaten des Völkermordes, der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, der Kriegsverbrechen und des Verbrechens der Aggression in ihr materielles – nationales – Strafrecht aufgenommen und unter Strafe gestellt. In § 1 dieses Völkerstrafgesetzbuchs (VStGB) wurde das Weltrechtsprinzip etabliert, demzufolge die in § 6 bis 12 VStGB benannten Straftaten auch dann, wenn die Tat im Ausland begangen wurde und keinen Bezug zum Inland aufweist, unter dieses Gesetz fällt.
Nahezu unbemerkt wurde die Bundesanwaltschaft zum Global Player und seitdem befindet sich die deutsche Justiz im Auslandseinsatz.
Neben bzw. unabhängig von der strafrechtlichen Relevanz kann bei Vorliegen der unten beschriebenen Voraussetzungen ein Eintrag der betreffenden Person in einer der existierenden Sanktionenlisten mit der Folge weitreichender persönlicher Einschränkungen erfolgen.
Am Beispiel der Sanktionenliste der Vereinten Nationen über Terrorverdächtige der Al-Qaida und des IS wird beschrieben, welche Aufgabe die für dieses Sanktionenregime zuständige Ombudsperson (OMP) wahrnimmt und welche Möglichkeiten des Delisting Betroffene haben.
III. Einführung in das Verfahren
Die Sanktionenliste der Vereinten Nationen über Terrorverdächtige der Al-Qaida und des IS wurde 1999 etabliert und sieht umfassende Beschränkungen u.a. der Reisefreiheit und des Zugriffs auf Vermögenswerte vor.
Die rechtlichen Grundlagen für diese Liste wurden in mehreren Resolutionen zur Terrorismusbekämpfung (counterterrorism) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen seit Ende des vergangenen Jahrhunderts entwickelt.
Das Büro der Ombudsperson wurde 2009 etabliert.
Gegenstand der Arbeit der Ombudsperson am Sitz der Vereinten Nationen in New York ist die Prüfung und Genehmigung bzw. Ablehnung von Anträgen auf Entfernung von der Liste und damit auch Aufhebung oder Fortführung der Sanktionen. Die Ombudsperson fungiert somit als Teil des UN-Counterterrorism-Apparates, indem sie dessen rechtliche Legitimation stärkt und auch dessen Effektivität stützt.
Die Ombudsperson empfiehlt der antragstellenden Person, sich zur Unterstützung in dem Verfahren anwaltlicher Hilfe zu bedienen. Die Ombudsperson kann den Gesuchstellern auf deren Wunsch unentgeltliche anwaltliche Unterstützung (pro bono) vermitteln.
IV. Rechtsgrundlagen
Bereits 1992, der Kalte Krieg war gerade überwunden, wies der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen darauf hin, dass das Fehlen von zwischenstaatlichen Kriegen allein kein Garant für dauerhaften Frieden und Sicherheit sei und nicht-militärische Quellen eine Bedrohung der wirtschaftlichen, sozialen, menschenrechtlichen und ökologischen Gegebenheiten darstellten.
Am 7.8.1998 wurden simultan Bombenanschläge in Nairobi und Daressalam verübt, die erstmalig Osama Bin Laden in den Fokus der Weltöffentlichkeit rückten.
Wenige Tage später, am 13.8.1998, reagierte der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen und beschloss einstimmig die Resolution 1189. Damit verpflichtete er die Mitgliedsstaaten, jegliche Organisation, Beteiligung, Anstiftung oder Teilnahme an terroristischen Handlungen in anderen Staaten zu unterlassen und dafür Sorge zu tragen, dass im eigenen Land keine Vorbereitungen für Anschläge erfolgten.
Am 15.10.1999 beschloss der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen in seiner 4051. Sitzung in der Resolution 1267 die Gründung eines Komitees mit der Aufgabe, von allen Mitgliedsstaaten Informationen über deren in dieser Resolution ebenfalls beschlossene Verpflichtung zur Auslieferung Osama Bin Ladens an einen Staat, der eine Anklage gegen ihn erhoben hatte, einzuholen und ferner zu ermitteln, ob die ebenfalls beschlossenen Maßnahmen wie das Startverbot von Flugzeugen im Eigentum oder Besitz der Taliban in jedem Mitgliedsstaat so lange durchgesetzt wurde, bis das Komitee den Start aus humanitären oder religiösen Gründen genehmigte. Ferner wurde das Einfrieren von Finanzmitteln, die direkt oder indirekt den Taliban zugeordnet wurden, beschlossen.
V. Die Auswirkungen des Sanktionenregimes im Fall 91
Im Fall 91 wurde der Verurteilte im Jahr 2018 aus der Strafhaft entlassen. Um Härten während der ersten vier Wochen nach einer Entlassung aus der Haft abzufedern, aber auch um eine Resozialisierung zu erleichtern, wird für jeden Häftling ein Überbrückungsgeld angespart, das im Zeitpunkt der Entlassung ausgezahlt wird – nicht jedoch für eine gelistete Person. Im Fall 91 wurde das Überbrückungsgeld in Höhe von wenig mehr als 1.000 EUR bei der Freilassung aus der Justizvollzugsanstalt getreu der Verpflichtung zum Einfrieren der Finanzmittel (asset freeze) einbehalten.
Das lokale und für den Entlassenen zuständige Arbeitsamt vermochte keine Entscheidung über das zustehende Arbeitslosengeld I zu fällen und gab die Entscheidung an die Bundesanstalt für Arbeit ab. Dort wurde schließlich das Arbeitslosengeld I zugestanden und sogleich auf den Hartz-IV-Satz gekürzt. Der zurückbehaltene Betrag in Höhe von monatlich 150,00 EUR wurde von dem Servicezentrum für Finanzsanktionen der Bundesbank, das zuständig ist für Finanzsanktionen gegen bestimmte Personen und Organisationen, die mit den ISIL (Da'esh)- und Al-Qaida-Organisationen in Verbindung stehen, für den Entlassenen bis zur Entfernung von der Liste verwahrt. Eine Enteignung erfolgte nicht.
Da der Verurteilte bei Bewerbungen um eine Anstellung verpflichtet war mitzuteilen, dass ihm als Gehalt nicht mehr als der Sozialhilfesatz ausgezahlt werden durfte, war es nicht möglich, seinen Eintrag auf der Liste und damit dessen Grund zu verschweigen.
Im Rahmen des travel ban wurde ihm untersagt, die Bundesrepublik Deutschland zu verlassen, zudem wurde er durch den Verfassungsschutz überwacht.
VI. Rechtsstaatliche Legitimation des Sanktionenregimes
Voraussetzung der Aufnahme einer Person in die Sanktionenliste ist nicht ein vorhergehendes, rechtsstaatlichen Grundsätzen entsprechendes Verfahren. Es genügt der Verdacht des Mitwirkens in einer terroristischen Vereinigung. Dieser Verdacht kann auf nicht näher begründeten und überprüfbaren Geheimdienstinformationen beruhen. Die Umsetzung der UN-Resolutionen kann daher regelmäßig zu Konflikten mit den nationalen Schutzrechten führen. Einen Ausgleich dieses Defizites soll die Tätigkeit der Ombudsperson herbeiführen.
VII. Das Büro der Ombudsperson
1. Ombudsperson und Personal, vertragliche und organisatorische Einbindung
Das Büro der Ombudsperson besteht aus drei Personen: der Ombudsperson selbst, einer JuristIn als Legal Officer, beide mit Gerichtserfahrung, und einer PolitologIn/JournalistIn als administrativer AssistentIn und Research-Assistant. Das Büro ist administrativ in das Department of Political and Peacebuilding Affairs (DPPA) integriert. Die Ombudsperson wird mit einem sog. Consultancy Contract als Experte engagiert. Das stellt sicher, dass sie nicht der Weisungsbefugnis einer vorgesetzten Stelle untersteht und damit in ihrer Arbeit an den einzelnen Fällen unabhängig ist. Die beiden MitarbeiterInnen sind Angestellte von DPPA und damit des UN-Sekretariats. Organisatorisch ist das Büro also gleichsam ein Zwitter; wiewohl die OMP unabhängig arbeitet, ist ihr Büro keine unabhängige Entität des UN-Sekretariats.
2. Verfahren, Verfahrensabschnitte, Vertraulichkeit, absolute Fristen
a) Erste Phase: Informationen sammeln
Gesuche um Aufhebung der Sanktion können mehr oder weniger formlos und auch per E-Mail gestellt werden. Geht ein Gesuch ein, wird die erste Phase des Verfahrens eröffnet. Sie dient dem Sammeln aller relevanten Informationen, dauert vier Monate und kann um höchstens zwei Monate verlängert werden. Die Informationen, über welche die Ombudsperson am Anfang verfügt, sind die von der UN im sog. Narrative Summary publizierten Informationen, auf welchen das Listing beruht. Die Narrative Summaries sind häufig sehr summarisch gehalten.
Die Sachverhaltsschilderungen genügen den Anforderungen an eine Anklageschrift in verschiedener Hinsicht nicht, wobei zu ergänzen ist, dass das auch nicht erforderlich ist. Das Narrative Summary ist die Basis für eine präventive administrative Maßnahme, die auf unbestimmte Zeit verfügt ist und für die Betroffenen einschneidende Konsequenzen haben kann.
Je nachdem, wer einen Namen für die Sanktionsliste vorgeschlagen hat, beruht das Listing manchmal ausschließlich auf Geheimdienstinformationen, die dem Komitee nur summarisch mitgeteilt werden. Beweise werden i.d.R. vom Designating State nicht verlangt, die Informationen werden als glaubwürdig vermutet. Der Quellenschutz der Geheimdienste dürfte der wichtigste Grund dafür sein, dass viele Narrative Summaries sehr pauschalisiert verfasst sind.
Listing-Vorschläge von europäischen Staaten beruhen in aller Regel auf einem laufenden Strafverfahren oder einem Strafurteil. In diesen Fällen ist die Faktenbasis unproblematisch, die Ombudsperson verfügt über ein schriftlich begründetes Strafurteil, das die relevanten, gerichtlich festgestellten Fakten enthält. Zusammen mit den im Verfahren der Ombudsperson aktualisierten Informationen liegt dann eine transparente Basis für die Prüfung der Frage vor, ob die Sanktion heute weitergeführt werden soll oder nicht.
Schwieriger ist es in Fällen ohne vorausgehende strafrechtliche Untersuchung oder Verurteilung, wenn das Listing nur auf pauschalen Geheimdienstinformationen beruht und es darüber hinaus keine Beweise für die behaupteten Fakten gibt. Dabei handelt es sich um den zentralen Schwachpunkt des ganzen Regimes unter dem Gesichtspunkt von Fairness und Due Process – eine häufig nicht hinreichende Informations- und Beweisbasis für das Listing selbst also.
Ein entscheidender Teil der Arbeit der Ombudsperson besteht also darin, möglichst viele verlässliche Informationen erhältlich zu machen und wenn möglich Beweise dafür, um den bekannten belastenden Sachverhalt dem Gesuchsteller vorhalten zu können und mit ihm zu diskutieren.
Hier zeigt sich in aller Deutlichkeit, dass die Ombudsperson nicht Richter oder Richterin ist. Es stehen ihr für die Informationsbeschaffung keine Zwangsmittel zur Verfügung, sie kann weder Unterlagen herausverlangen noch Personen als Zeugen vorladen oder Akten einsehen. Sie ist bei alledem auf den Goodwill der Mitgliedsländer und Dritter angewiesen. Gelegentlich kommt die Ombudsperson durch Open-Source-Recherchen oder auf spezialisierten Plattformen zu wichtigen Hinweisen. In all diesen Fällen ist Vorsicht geboten.
b) Zweite Phase: Dialog
Die zweite Phase dauert zwei Monate und kann um höchstens zwei Monate verlängert werden. Die wichtigste Funktion dieses Verfahrensabschnitts dient der Gewährleistung des rechtlichen Gehörs, außerdem ermöglicht dieser Verfahrensabschnitt der Ombudsperson, sich persönlich ein Bild von dem Fall und vor allem von der Person des Gesuchstellers zu machen.
Die Resolution schreibt vor, dass die Ombudsperson den Gesuchsteller, wann immer möglich, persönlich treffen, ihn mit den gesammelten Informationen konfrontieren und dazu befragen soll.
Anlässlich der Reisen zu den Gesuchstellern trifft sich die Ombudsperson im Aufenthaltsland regelmäßig auch mit Vertretern der nationalen Behörden. Wenn möglich führt die Ombudsperson anlässlich der Länderbesuche auch Interviews mit „Moralzeugen“, beispielsweise mit Vorgesetzten oder auch mit Familienangehörigen.
Für alle diese Gespräche, inklusive demjenigen mit dem Gesuchsteller, gibt es keine formellen Regeln, es gibt keine „Zeugen“, „Auskunftspersonen“ oder andere prozessual geregelte Verfahrensrollen mit spezifischen Rechten und sanktionierbaren Pflichten. So gibt es bspw. keine Pflicht zur Mitwirkung und auch keine prozessual geschützte Wahrheitspflicht.
Am Ende der Dialogphase muss die Ombudsperson ihren Schlussbericht, den Comprehensive Report, zum Fall samt Empfehlung verfassen und beim Komitee einreichen. Diese Berichte sind vertraulich. Sie legen Rechenschaft ab über die formellen Verfahrensschritte und die Aktivitäten der Ombudsperson im Verfahren, geben Aufschluss über die Herkunft und die Art der gesammelten Informationen und Beweismittel. Sie geben die Informationen zusammenfassend wieder und enthalten deren Würdigung im Hinblick auf die für die Empfehlung leitende Frage, ob es eine vernünftige und verlässliche Grundlage für die Sanktion (noch) gibt.
c) Dritte Phase: Diskussion mit dem Komitee, Entscheidung und Mitteilung der Entscheidung und der Gründe
Die Ombudsperson präsentiert ihren Schlussbericht mündlich und begründet ihren Antrag. Lautet die Empfehlung auf Retaining, bleibt der Name ohne Weiteres auf der Liste, lautet sie auf Delisting, läuft eine Frist von maximal 60 Tagen, in der die Mitglieder ihre Opposition anmelden können. Die Empfehlung der Ombudsperson kann nur umgestoßen werden, wenn alle fünfzehn Mitglieder opponieren (reversed consensus). Das ist noch nie geschehen; auch wurde noch nie eine Entscheidung des Komitees an den Sicherheitsrat übermittelt. In diesem Prozedere liegt der Grund für die prozessuale Stärke der Ombudsperson und für die Effektivität des gesamten Mechanismus.
Schließlich wird dem Gesuchsteller die Entscheidung kommuniziert und eine Zusammenfassung des Comprehensive Report als deren Begründung übermittelt.
Ein Rechtsmittel gegen die Entscheidung gibt es nicht; hingegen besteht die Möglichkeit, dass ein Gesuchsteller, der unterliegt, ein neues Gesuch einreicht. In einigen Fällen wurde ein Gesuchsteller erst auf sein zweites oder gar drittes Gesuch hin von der Liste gestrichen.
3. Prüfungsfrage; Beweisstandard
Der verlangte Beweisstandard kann nicht so hoch sein wie in einem Strafverfahren, zumal es an den strafprozessualen Beweismöglichkeiten fehlt, also nicht beyond reasonble doubt. Es ist mit anderen Worten nicht notwendig und wäre in diesem Verfahren in vielen Fällen auch gar nicht möglich, die für ein Retaining notwendigen begründenden Fakten jenseits vernünftiger Zweifel zu beweisen.
Die Frage nach dem Beweisstandard ist in zweierlei Hinsicht zu beantworten:
a) Im Hinblick auf den Beweis der mutmaßlichen, im Narrative Summary aufgeführten Fakten. Die aktuelle Ombudsperson hat insoweit stets mindestens den More-likely-than-not-Standard angewandt, der die Sache im Grundsatz als hinreichend bewiesen betrachtet, wenn sie sich davon überzeugen konnte, dass die Fakten mit überwiegender Wahrscheinlichkeit richtig sind.
b) Gestützt auf die so erstellten Fakten ist die Frage zu beantworten, ob es eine vernünftige und glaubwürdige Basis für die Fortsetzung der Sanktion noch gibt: Dafür ist prognostisch zu berücksichtigen, wie sich der Gesuchsteller heute zu den erstellten Fakten verhält, ob er sich von seinen radikalen Überzeugungen abgewandt, die Kontakte zu den gelisteten Organisationen gekappt hat (Disassoziation und Deradikalisierung) und ob anzunehmen ist, dass er sich in Zukunft wohlverhalten wird (mit Bezug auf die Listungskriterien der Resolution, nicht generell).
Unter welchen Umständen dies zu einem Ergebnis führt, das als vernünftige Grundlage einer Listung taugt, lässt sich in Rechtsbegriffen nur schwer fassen. Was sich sicher sagen lässt: Die abstrakte Möglichkeit, dass eine Person rückfällig werden könnte, genügt nicht, und zwar deshalb nicht, weil diese abstrakte Möglichkeit immer besteht und mit diesem Argument jedes Delisting abgelehnt werden könnte und müsste.
Die behaupteten Fakten müssen also mit überwiegender Wahrscheinlichkeit angenommen werden können und es muss spezifische Gründe geben anzunehmen, dass der Gesuchsteller mit einem spezifischen Risiko einschlägig „rückfällig“ werden könnte.
VIII. Stand der Ombudstätigkeit im Jahr 2021
Seit das Büro im Juli 2010 unter der ersten Ombudsperson operativ wurde, sind insgesamt 93 Verfahren eröffnet und bis Januar 2021 davon 89 erledigt worden, 84 durch das Büro selbst, fünf Verfahren sind infolge von Rückzug bzw. vorzeitiger Entscheidung durch das Komitee gegenstandslos geworden. In den durch das Büro erledigten 84 Fällen sind 62 Gesuche gutgeheißen worden und in der Folge davon wurden 57 Individuen und 28 Entitäten von der Liste gestrichen; 22 Gesuche wurden abgelehnt. Die Erfolgsquote liegt mithin bei fast 75 %. Diese hohe Quote ist mit Vorsicht zu interpretieren.
Da es sich immer nur um Gesuche um Aufhebung ex nunc handelt und nicht um die Überprüfung der ursprünglichen Listing-Entscheidung ex tunc, kann, wenn überhaupt, nur indirekt auf die mangelhafte Qualität der ursprünglichen Entscheidung geschlossen werden. Es dürfte sich bei der Gruppe der Gesuchsteller im Wesentlichen um eine positive Auswahl aus allen gelisteten Personen handeln, die sich aufgrund ihres besonderen Falls eine realistische Chance auf Streichung von der Liste ausrechnen, und wie die Statistik zeigt, zu Recht.
Im Januar 2021 sind vier Verfahren noch anhängig, wovon in zwei Verfahren der Schlussbericht bereits eingereicht und dem Komitee präsentiert worden ist. In beiden Fällen stehen die formelle Entscheidung und die Kommunikation der Begründung an die Gesuchsteller noch aus. Von den verbleibenden zwei Verfahren ist eines in der Dialogphase und das Interview mit dem Gesuchsteller angesetzt.
Das letzte Verfahren befindet sich noch in der Phase der Informationsbeschaffung. Vier weitere Verfahren sind informell angekündigt, aber noch nicht eingegangen bzw. eröffnet.
Da es für die Gesuchsteller selbst keinen anderen Weg gibt als durch ein Verfahren bei der Ombudsperson, um von der Liste gestrichen zu werden, liegt es auf der Hand, dass die Gewährung dieses Rechtsbehelfs durch den Sicherheitsrat unverzichtbar ist.
IX. Problemstellungen; Ausblick
1. Vertraulichkeit
Das Verfahren insgesamt ist vertraulich, die Comprehensive Reports ebenso. Ein nicht abschließend gelöstes Problem ergibt sich aus dem Spannungsverhältnis von Vertraulichkeit und Transparenz. Sowohl Mitgliedstaaten als auch die Gesuchsteller können ein Interesse daran haben, dass die Informationen der Schlussberichte nicht öffentlich werden (z.B. Quellenschutz hier und Schutz vor strafrechtlicher Belastung dort). Die Schlussberichte werden den Gesuchstellern nicht integral zugänglich gemacht, sondern nur in einer Zusammenfassung, was einer Beschränkung des rechtlichen Gehörs gleichkommt. Die Berichte werden auch nicht in anonymisierter Form publiziert, weshalb die Öffentlichkeit und auch die Wissenschaft den Verfahrensgang und die Gründe eines einzelnen Verfahrens nicht nachvollziehen können.
2. Verwendung geheimer Informationen
Die Ombudsperson erhält bisweilen relevante Informationen mit der Auflage, sie nicht zu erwähnen und ihre allfällige Verwendung nicht offenzulegen. Das rechtsstaatliche Problem ist manifest. Es ist an der Ombudsperson, eine unter der Vorgabe des Fairnessgebots vertretbare Praxis zu entwickeln und zu befolgen. Nicht vertretbar ist nach Erachten der bisherigen drei Ombudspersonen, sich ausschließlich auf solche Informationen zu stützen, um ein Retaining zu begründen.
Unproblematisch ist solch vertrauliches Wissen bei der Ombudsperson, wenn die verwertbaren Quellen für sich vernünftig, hinreichend und glaubwürdig sind, um die Sanktion zu begründen, und die vertraulichen Informationen dafür gar nicht gebraucht werden oder nur bestätigen, was ohnehin feststeht. Und im Zwielicht zwischen diesen beiden Extremen hat die Ombudsperson unter der Vorgabe des Fairnessgebots die im Einzelfall vertretbare Lösung zu finden.
3. Die Errungenschaften
Die Sanktionen, die eine erhebliche Beschränkung der Betroffenen ihn ihren Grundrechten zu Folge haben, unterliegen nicht einer gerichtlichen Kontrolle. Der Sicherheitsrat hat mit der Funktion der Ombudsperson aber einen effektiven Überprüfungsmechanismus geschaffen, wenn auch nur im Rahmen eines Gesuchs um Aufhebung und außerdem nicht durch eine institutionell unabhängige gerichtliche Behörde.
Hinsichtlich Due Process, Fairness und Transparenz sind als Errungenschaften zu erwähnen, dass das Verfahren auf transparenten prozeduralen Regeln und einer publizierten „Rechtsprechung“ dazu beruht, eine Entscheidung in einem vernünftigen und absehbaren Zeitrahmen (ca. zehn Monate im Durchschnitt) erwartet werden kann, der Anspruch auf rechtliches Gehör weitgehend verwirklicht ist und eine anwaltliche Unterstützung vermittelt werden kann. Hinsichtlich der Transparenz ist außerdem zu erwähnen, dass die Ombudsperson in öffentlichen Berichten dem Sicherheitsrat Rechenschaft über den Geschäftsgang und allfällige Probleme ablegt, die sich ihr bei der Ausübung des Amtes stellen.
4. Ausblick
Würde ein idealtypischer Gesetzgeber einen Überprüfungsmechanismus für die Antiterrorsanktionen der UNO am Reißbrett entwerfen, fände er gewiss eine andere Lösung als die heute etablierte. Es kann aber festgehalten werden, dass der Sicherheitsrat nach Vorgabe von Kofi Annan, der Forderung der Like-Minded Group und unter dem Druck der europäischen Justiz in kreativer Weise einen Überprüfungsmechanismus geschaffen hat, der zwar nicht einem justiziellen Ideal, aber dem politisch Machbaren entspricht und der gleichzeitig substanziell und effektiv ist. So bleibt zum Schluss die rechtstheoretisch interessante Feststellung, dass es wirksame Alternativen zu gerichtlichen Verfahren gibt, die nicht schon deshalb minderwertig sind, weil sie den formellen Anforderungen an justizielle Verfahren nicht genügen. Insofern ist die Schaffung der Ombudsperson bereits heute eine Erfolgsgeschichte. Es bleibt zu hoffen, dass mit Nachfolgeresolutionen nicht nur der Status quo erhalten, sondern Verbesserungen erzielt werden können bei der institutionellen Einbettung des Büros als eines ständigen und unabhängigen innerhalb der UN und dass für verbleibende Mängel hinsichtlich Fairness und Due Process ebenso kreative wie allseits akzeptable Lösungen gefunden werden.